Unsichtbarkeit
von Kristin Jerg
Die schlimmsten Tage sind die, an denen sie sich bereits in der Nacht anschleicht.
Nicht als Schmerz schleicht sie sich an, der später unweigerlich dazukommen wird, sondern als dieses Gefühl, dass der eigene Körper nicht passt.
Wie ein zu enges Shirt oder eine rutschende Socke, nur eben schlimmer.
Als ich aufwache, ist die Migräne aber doch schon da, nagt sich in meine rechte Schläfe wie ein Holzwurm, bereit sich einzunisten und mich auszuhöhlen, bis ich als leere Hülle durch den Tag wanke.
Es wird noch dauern, bis die Attacke richtig stark ist, und ich wünsche mir, es wäre nicht so, weil die Ungewissheit was kommt, eigentlich am schlimmsten ist.
Ich stehe auf, überlege für einen Moment, ob ich mich heute krankmelden soll, denke an meine Patient*innen, will kurz weinen und entscheide mich dann doch für meine Rüstung aus Porzellan.
Und ein Triptan plus ein Naproxen.
Die App, in die ich meine Attacken seit Jahren gewissenhaft eintrage, blinkt: „Sie haben in den letzten 30 Tagen an 10 Tagen Akutmedikamente benötigt. Zur Therapieanpassung empfehlen wir Ihnen die Kontaktaufnahme mit Ihrem Kopfschmerzzentrum.“
Ich drücke auf „Ok“, obwohl nichts okay ist, und mache mich ans Frühstück, denn was kann man anpassen, wenn man schon alles ausprobiert hat?
Routine ist mein bester Freund und mein Freund der Beste, weil er mir sagt: „Komm, ich mach dein Müsli, leg dich nochmal kurz hin!“
Ich krieche zur Arbeit, obwohl ich Fahrrad fahre. Die kalte Luft betäubt meine Schmerzen.
„Na ja, ausgesucht habe ich es mir nicht“, sage ich, als mich ein Kollege fragt: „Wie hast du es eigentlich geschafft, keine Nachtdienste machen zu müssen, das ist aber schon echt ein Vorteil?“ Ich fühle mich schlagfertig, obwohl ich weiß, dass Ehrlichkeit ein zweischneidiges Schwert ist.
Und: „Hab heute etwas Kopfschmerzen“, zu einer Kollegin, während mein Kopf wummert, um der sehr starken Intensität, die ich später in die App eintragen werde, auch ja gerecht zu werden.
Mitleidiger Blick, während ich weiß, dass beide nicht verstehen, was es heißt, an der Grenze zur Transparenz zu leben. Aber man gewöhnt sich an alles.
Wie kann etwas nur unsichtbar sein, das so blau ist, denke ich, während ich abends mal wieder in das Coolpack auf meiner Stirn starre und das Leben draußen weiter rast.
Ich greife nach meinem Handy, blinzle gegen das schmerzende Grell.
„Unsichtbarkeit?“, frage ich.
„Unsichtbarkeit ist jener Zustand, in dem ein Gegenstand, eine Substanz oder eine Strahlung für das menschliche oder tierische Auge nicht wahrnehmbar ist“, antwortet Wikipedia.
Licht, nicht in das Auge des Betrachters fallend
Der Vorhang ist zugezogen, während draußen die Sommerhitze drückt. Die Stunde am See war zu viel. Natürlich hatten sich die anderen keinen Platz im Schatten gesucht. Und ich mir dann eben auch nicht.
Irgendwann ist die Sonne endlich untergegangen und ich gehe raus. Die Lichter der Stadt sind so schön, dass mir die Tränen kommen.
Farblose Gase, zum Beispiel Luft
Ich betrete das Stationszimmer. Mein Kopf pulsiert schon jetzt. Obwohl Luft doch nichts wiegt, ist die Stickigkeit im Zimmer erdrückend. Das Zünglein an der Waage, das meinen Tag zum Einstürzen bringen kann.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, sagt mein Vater.
„Manche sind schwerer, manche leichter, aber jeder bekommt so viel, wie er tragen kann“, sage ich selbstbewusst zu einer Freundin, dabei ist der Rucksack auf meinem Rücken auch jetzt schon so schwer.
Keuchend halte ich an, checke die Strecke.
Erstarre.
Flimmert mein Auge etwa?
Kämpfe die Panik nieder, denn hier in den Bergen bin ich mit Sehstörungen nicht sicher, eile weiter, weil ich weiß, dass meine Migräne zuverlässig kommt. Zuverlässig, sobald ich mich entspanne.
Endlich auf der Berghütte angekommen, hämmert mein Kopf mit einer Intensität, die mich innerlich verzieht.
Außer Puste von der Intensität meiner Sporteinheit steige ich vom Ergometer.
„Was, nur 80 kW? So viel mach ich zum Aufwärmen“, kommentiert mein Nachbar im Fitnessraum unseres Studentenwohnheims ungefragt. Ich weiß nicht, ob ich mich schäme oder ärgere, während die Betablocker meinen Puls niedrig halten.
Aber trotz aller Anstrengung komme ich an. Obwohl ich die langsamste war, umpeitscht auch mich der schwerelose Wind am Aussichtspunkt.
Schnell bewegende Gegenstände, zum Beispiel Pistolenkugeln
„Ich hab‘ auch öfter Kopfschmerzen. Ist das nicht normal?“, fragt eine Freundin, mit der ich mich danach auseinanderleben werde – nicht weil ich es ihr nicht gerne erklärt hätte, sondern weil ich es ihr bereits erklärt habe.
„Können wir bitte das Radio leiser machen?“, frage ich und kann den jammerigen Ton meiner Stimme selbst kaum ertragen.
Mein Bruder verdreht genervt die Augen. „Nee, wir wollen jetzt mal Musik hören“, sagt er. Ich weiß, dass er es nicht so meint, weil man Dinge nicht so meinen kann, wenn man nicht weiß, was sie für andere bedeuten.
„Ich habe mir nicht vorgestellt, dass du mal krank wirst“, sagt mein Vater und ich fühle mich schuldig.
„Wir können auch einfach spazieren gehen“, sagt mein Freund. Eine Freundin schiebt mir unauffällig ihr Klausurenblatt hin, während mein Kopf so sehr pulsiert, dass ich mich kaum auf die Fragen unserer Chirurgie-Klausur konzentrieren kann.
Mikroorganismen
Mein Friseur ist erkältet. Ich überlege kurz, ob ich etwas sagen soll, weil ich diesen Monat schon acht Triptane genommen habe und nicht krank werden darf. Weil eine Erkältung für mich Kopfschmerztage bedeutet – und Kopfschmerztage sind Medikamententage.
„Dann wird‘ ich halt krank“, denke ich mir, bevor ich meinem Freund in das pechschwarze Wasser des nächtlichen Meeres folge. Mein Herz rast und das Wasser ist eisig. Doch dann sehe ich es: Die fluoreszierenden Algen um mich beginnen zu leuchten. Ich lache auf vor Freude.
Weit entfernte Objekte, zum Beispiel Galaxien
„I identify as spoonie“, murmele ich halb scherzhaft, halb ernst. Die Worte hören sich komisch an, genauso wie die Vorstellung, nur eine begrenzte Löffel-Anzahl an Energie zu haben.
Aber wie kann es nicht komisch sein, mich nicht zu sehr freuen zu dürfen, nicht zu traurig zu sein, nicht zu wütend, nicht zu müde? Um die wenigen Löffel voll Energie, die ich habe, nicht alle auf einmal zu verbrauchen?
Gar nicht so leicht, erst recht nicht, wenn man ständig das Doppelte an Leben in die Hälfte an Lebenszeit packen muss.
„Wir könnten heute Abend noch was trinken gehen?“, schlägt eine Freundin während eines Besuchs vor.
Ich kann nicht, sage ich nicht.
The sky is the limit and my body a cage, denke ich.
Denke an die Tränen, die ich weinen werde, wenn ich endlich wieder zu Hause bin, weil ich mich nicht getraut habe zu sagen, wie mies ich mich fühle; denke an die Sucht nach dem Sehnen, an ein anderes Leben in einer anderen Welt, in der Migräne so ernst genommen wird wie ein gebrochenes Bein oder Diabetes – oder einfach ernst genommen.
Denke plötzlich an glänzende Nachtlichter, peitschenden Wind, das warme Gefühl von Verständnis und Hilfsbereitschaft und glühende Algen.
Frage mich, ob Unsichtbarkeit nicht vielleicht sogar entscheidend ist.
Einfache Sprache
Am schlimmsten sind die Tage,
an denen sich die Migräne schon in der Nacht anschleicht.
Nicht als Schmerz – der kommt später –
sondern als ein komisches Gefühl:
als würde der eigene Körper nicht richtig passen.
Wie ein zu enges Shirt oder eine Socke, die immer rutscht –
nur viel schlimmer.
Wenn ich morgens aufwache, ist die Migräne doch schon da.
Sie bohrt sich wie ein Holzwurm in meine rechte Schläfe.
Sie will bleiben und alles in mir aushöhlen,
bis ich mich leer fühle und kaum noch durch den Tag komme.
Ich weiß, dass die Schmerzen später stärker werden.
Aber das Warten darauf ist fast noch schlimmer.
Ich stehe auf und frage mich kurz:
Soll ich mich krankmelden?
Ich denke an meine Patient*innen,
will fast weinen,
entscheide mich dann aber für meine „Rüstung aus Porzellan“.
Und nehme zwei Medikamente: Triptan und Naproxen.
Meine Migräne-App blinkt:
„In den letzten 30 Tagen haben Sie 10 Mal Akutmedikamente genommen.
Bitte sprechen Sie mit einem Kopfschmerzzentrum.“
Ich drücke „Ok“,
aber eigentlich ist nichts okay.
Ich frühstücke trotzdem.
Was soll man auch noch anpassen,
wenn man schon alles ausprobiert hat?
Routine hilft mir.
Und mein Freund ist großartig.
Er sagt: „Ich mach dir dein Müsli. Ruh dich nochmal aus.“
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Im Alltag
Ich fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit.
Die kalte Luft betäubt den Schmerz ein wenig.
Ein Kollege fragt:
„Wie hast du es geschafft, keine Nachtdienste machen zu müssen?“
Ich antworte: „Na ja, ausgesucht habe ich mir das nicht.“
Ich bin stolz auf meine ehrliche Antwort,
auch wenn ich weiß: Ehrlichkeit ist nicht immer einfach.
Zu einer Kollegin sage ich:
„Ich habe heute ein bisschen Kopfschmerzen.“
Aber mein Kopf pocht stark.
Ich werde das später als „starke Intensität“ in die App eintragen.
Sie schaut mich mitleidig an.
Ich weiß, dass sie es nicht wirklich versteht.
Man gewöhnt sich daran,
an der Grenze zur Sichtbarkeit zu leben.
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Unsichtbarkeit
Abends liege ich mit einem Kühlpack auf der Stirn.
Draußen geht das Leben weiter.
Ich sehe ins Handy, obwohl das Licht weh tut.
Ich frage mich: „Was ist Unsichtbarkeit?“
Wikipedia sagt:
„Unsichtbarkeit ist, wenn etwas für das Auge nicht sichtbar ist.“
Ich denke an Licht, das nicht ins Auge fällt.
Der Vorhang ist zugezogen.
Draußen ist es heiß.
Die Stunde am See war zu viel.
Die anderen haben keinen Schatten gesucht – ich auch nicht.
Als die Sonne endlich untergeht, gehe ich raus.
Die Lichter der Stadt sind so schön,
dass ich weinen muss.
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Luft, Berge, Gewicht
Ich betrete das Stationszimmer.
Die Luft ist schwer und stickig,
obwohl Luft doch eigentlich nichts wiegt.
Mein Kopf pocht schon wieder.
Das kann meinen ganzen Tag zum Einsturz bringen.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, sagt mein Vater.
Ich sage oft:
„Man bekommt nur so viel, wie man tragen kann.“
Aber mein Rucksack ist jetzt schon zu schwer.
Ich halte keuchend an,
mein Auge flimmert.
Ich bekomme Panik –
denn hier in den Bergen ist das mit Migräne gefährlich.
Aber ich gehe weiter.
In der Hütte angekommen, hämmert mein Kopf.
Beim Sport bin ich völlig außer Atem.
Mein Nachbar sagt:
„Was, nur 80 Kilowatt? Das mache ich zum Aufwärmen!“
Ich weiß nicht, ob ich mich schämen soll oder wütend sein.
Die Betablocker halten meinen Puls niedrig.
Trotz allem komme ich oben an.
Der Wind streicht auch über mein Gesicht.
Ich bin langsam – aber ich bin da.
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Unverständnis
„Ich habe auch oft Kopfschmerzen. Das ist doch normal“,
sagt eine Freundin,
mit der ich später keinen Kontakt mehr haben werde.
Nicht, weil ich es ihr nicht erklären will –
sondern weil ich es ihr schon erklärt habe.
„Kann das Radio leiser?“
Meine Stimme klingt klagend.
Mein Bruder verdreht die Augen.
„Nee, wir wollen jetzt Musik hören“, sagt er.
Er meint es nicht böse –
aber er versteht nicht, was es für mich bedeutet.
„Ich hätte nie gedacht, dass du mal krank wirst“, sagt mein Vater.
Ich fühle mich schuldig.
Mein Freund sagt:
„Wir können auch einfach spazieren gehen.“
Eine Freundin schiebt mir heimlich ihr Prüfungsblatt zu.
Ich kann kaum lesen,
so sehr hämmert mein Kopf bei der Klausur.
⸻
Krankheiten und Freude
Mein Friseur ist erkältet.
Ich überlege, ob ich etwas sagen soll.
Ich darf nicht krank werden –
weil Erkältungstage bei mir Migräne-Tage sind.
Und das bedeutet: Medikamente.
„Dann werde ich eben krank“,
denke ich später am Meer,
und gehe mit meinem Freund ins kalte Wasser.
Es ist eiskalt.
Aber dann sehe ich:
Um mich herum beginnen die Algen zu leuchten.
Ich lache laut – vor Freude.
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Spoonie-Leben
„Ich bin eine Spoonie“, sage ich halb im Spaß.
Das bedeutet:
Ich habe nur eine begrenzte Anzahl an „Löffeln“ – also Energie.
Ich darf mich nicht zu sehr freuen.
Nicht zu traurig sein.
Nicht zu wütend, nicht zu müde.
Weil alles Energie kostet.
Es ist schwer,
wenn man doppelt so viel Leben in die Hälfte der Zeit pressen muss.
„Wollen wir heute Abend noch was trinken gehen?“,
fragt eine Freundin.
Ich sage nicht, dass ich nicht kann.
Ich denke nur:
„Der Himmel ist die Grenze –
aber mein Körper ist ein Käfig.“
Ich weiß, dass ich später zu Hause weinen werde,
weil ich mich nicht getraut habe, ehrlich zu sein.
Ich denke an das Sehnen nach einem anderen Leben.
An eine Welt,
in der Migräne so ernst genommen wird
wie ein gebrochenes Bein.
Ich denke an Nachtlichter,
an Wind, an Verstandenwerden,
an Hilfe.
Und an Algen, die im Dunkeln leuchten.
Vielleicht – denke ich –
ist Unsichtbarkeit gar nicht das Problem.
Vielleicht ist sie ein Teil der Wahrheit.