Schlafsaal-Tage und Schlafsaal-Nächte
von Thomas Wiefelhaus
Das Platzangebot im Schlafsaal war eng bemessen, außer den Betten und Nachttischen existierten keine persönlichen Bereiche für die Patienten. Selbstverständlich hatte Tomas keinen eigenen Kleiderschrank und – im Prinzip – nicht mal eigene Unterhosen. Die Kleidung musste man aus einem großen Schrank, in den oft alles kunterbunt hineingestopft wurde, zwischen Hemden und Hosen anderer Patienten heraussuchen, und bei der Unterwäsche ging es ohnehin durcheinander. Praktisch gehörte sie dem, der sie angezogen hatte. Der gemeinschaftliche Schrank war in der seitlichen Wand eingebaut und nahm fast keinen Platz ein. Im großen Baderaum – hier gab es zwei Badewannen – war noch ein zweiter Schrank vorhanden, für den just dieselben Regeln und dieselben Probleme galten.
Das wenige, was einem selbst gehörte, war daher heilig!
Tomas konnte richtig kiebig werden, wenn er in seinem frisch gemachten, glatt gezogenen Bett eine Kuhle entdeckte. Denn diese verriet ihm, dass, während seiner Abwesenheit, ein unverfrorenes dickes Hinterteil auf seinem Bett gesessen hatte, seinem einzigen ureigenen Bereich, ohne persönliche Einladung!
Aber die große Enge hatte auch Vorteile … Wenn man zu Gesprächen in der Lage war, weil man, selten genug, einmal keine Unmengen von Medikamenten bekam, hatte man viele Kontakte. Und die vielen Gespräche taten meistens gut: Mensch ist nun mal ein Herdentier! – Nein, das „große Leben“ pulsierte im Schlafsaal zwar nicht, aber Langeweile fühlte Tomas hier selten. (Obwohl er von anderen „Ehemaligen“ Jahrzehnte später, etwas völlig Gegenteiliges hörte und sich auch selber, 2 Jahre zuvor, als 14-Jähriger, im Schlafsaal völlig verloren und vergessen gefühlt hatte …) Man könnte fast sagen: Für ihn waren der große Schlafsaal und seine vielen Gespräche die beste Therapie, die er in der Klinik bekam …
Ja, auf eine gewisse Art liebte Tomas mittlerweile „seinen“ Schlafsaal mit den 16 Betten. Aber natürlich entstehen in solchen Sälen immer wieder sowohl Sympathien als auch Antipathien.
Tomas mochte den „Neuen“ nicht, einen älteren Mann, der, seit knapp zwei Wochen, im Bett rechts neben ihm lag. Er möchte ihn ganz und gar nicht, hielt ihn für einen Aufschneider. – Der Mann hielt sich dagegen selber wohl für etwas ganz Besonderes. Er gefiel sich oft darin, hofiert zu werden. Obwohl ihm die Kaffeekanne geradewegs vor der hochherrschaftlichen Nasenspitze platziert war und Tomas erst über den Tisch hätte greifen müssen, erlaubte er huldvoll: „Du darfst mir den Kaffee einschenken!“
Nur weil Tomas ihm mal einen kleinen Gefallen getan hatte, meinte dieser Herr Fuzzi offenbar gleich: Er, Tomas, der Stationsjüngste, wäre seiner Lakaien einer …! Schon so alt und noch so dämlich!
Ein anderes Mal hatte der Mann allen erzählt, dass er jetzt 75 würde: Ein Dreivierteljahrhundert! Großartig ließ er sich von seinen Mitpatienten feiern, mit beglückwünschenden Liedern und mit kleinen Geschenken, für die alle fleißig gesammelt hatten. Nur Tomas wollte weder mitsingen noch etwas spenden. Zwei Tage später stellte sich dann heraus, dass der Betagte sein Wiegenfest keineswegs am besagten Tage hätte feiern dürfen, sondern erst zirka ein vergängliches halbes Jährchen später! Zudem wurde das Geburtstags-„Kind“ auch heuer erst kindische 68 Jahre alt … Einfach nur ober-peinlich!
*
Schlafenszeit im Schlafsaal. Heute lag Tomas wieder pünktlich um zehn in seinem Bett, kurz bevor das Licht ausgeknipst wurde. Herzhaft gähnend drehte er sich zum Einschlafen auf die Seite. Dann verebbten auch die letzten Gespräche. Glücklicherweise nahm man, während der Nachtruhe, meist Rücksicht aufeinander. Schließlich wollten alle schlafen.
Nur ein Bett, welches Josef – einem sympathischen Tippelbruder – gehörte und keinen Meter entfernt von Tomas Kopfende stand, ruckelte und quietschte mal wieder verdächtig: in alter Gewohnheit! Wie jeden Abend, sobald das Licht aus war.
Tomas machte aus der allabendlichen Sexualnot seines Bettnachbarn am Kopfende für sich eine Tugend und ließ sich von diesem monotonen, gleich bleibenden Geräusch in den Schlaf lullen.
Was war jetzt das? Plötzlich fing der Bettnachbar zur Rechten, der „Aufschneider“ nämlich, fürchterlich an zu brabbeln. Tomas hob den Kopf. Seitdem er der feschen Ärztin hatte versprechen müssen, sich tagsüber nicht mehr hinzulegen, ließ er sich eigentlich durch nichts und niemanden mehr in seiner wohl verdienten Nachtruhe stören, aber diese beharrliche Brabbelei, in kaum mehr als einer Armlänge Entfernung, vergraulte einem unweigerlich den wunderbarsten Schönheitsschlaf.
Warum auch musste ausgerechnet der „Aufschneider“ neben ihm liegen? Der hatte zwar nachts schon manchmal geschnarcht und manchmal dumm herum geblubbert, aber noch nie so laut und so lange wie heute. – Und offenbar hatte er keineswegs vor, noch in dieser Nacht damit aufzuhören …
„Määnsch, halt doch endlich die Klappe, wir wollen schlafen!“
Was brabbelt und redet er da eigentlich so lange? Da Tomas ohnehin nicht einschlafen konnte, richtete er sich kurzerhand in seinem Bett auf, beugte sich zum Aufschneider hinüber und hörte ihm ein bis zwei Minuten lang konzentriert zu. Aber nur ein einziger Satz ließ sich vollständig verstehen. Er lautete: „Ich bin der letzte Kurier des Zaren!“
„Määnsch, ein Kurier kannst du auch morgen früh noch sein, meinetwegen den ganzen Tag!“ schimpfte Tomas mit halblauter Stimme. „Jetzt wollen wir alle schlafen!“
Tomas ließ sich wieder ins Bett fallen. Er wollte sich soeben wieder zur anderen Seite drehen, um das fast Unmögliche, das Einschlafen, erneut zu erproben, aber jetzt schien der „Laut -Sprecher“ endlich gehört zu haben. Denn diesmal richtete er sich auf, brabbelte irgendeinen Unsinn, und auf einmal … krabbelte er hinüber auf Tomas Bett. Auf die einzige Privatzone, die Tomas im hiesigen Schlafsaalleben besaß! Das war zu viel! – Und zudem lümmelte sich dieser Schutzrechtsverletzer jetzt schwergewichtig auf Tomas Beinen, als wolle er hier, liebend gerne, an Ort und Stelle einpennen! … oder vielleicht gar die Nachtwache halten? Tomas war empört! Mit Händen und Füßen schubste er den unliebsamen Eindringling aus seinem Bett und Revier. Der Aufschneider brabbelte ihn ungehalten an, doch Tomas konnte wieder nur Bruchstücke verstehen; aber immerhin so viel, dass er jetzt ärgerlich über ihn sei, ja, ganz außerordentlich ärgerlich und dass er sich, auf der Stelle, bei der Nachtwache beschweren wolle.
Nun dreht der sich tatsächlich um und tapst über den dunklen Gang ins Büro hinein, um dort – na klaro doch! – abzulästern. Verbrabbelt jetzt der Nachtwache seine Story; dieser Hampelmann!
Angeregte, meist unverständliche Gesprächsfetzen drangen in den Saal. Nach wenigen Minuten wurde plötzlich die Tür zur angrenzenden Station laut aufgeschlossen. Eine zweite Nachtwache huschte eilig, mit kurzen dumpfen Schritten, durch den dunklen Schlafsaal ins Büro. Nun drangen noch angeregtere Gesprächsfetzen an Tomas Ohren. Und noch aufgeregteres Gebrabbel.
Von den beiden Nachtwachen links und rechts fest untergehakt, wurde der Aufschneider quer durch den Saal von der Stationsbühne abgeführt: Zwischen allen Betten und vielen noch wachen Augen hindurch! Diese Nacht würde er wohl sehr einsam verbringen müssen. Nur in Gesellschaft von zwei alten Bekannten: einer Schmutz und Urin abweisenden, mit Kunststoff bezogenen, aber sonst sehr nackten kalten Matratze, die allerdings zusätzlich mit dem schlichten Komfort einer kratzigen Wolldecke ausgestattet war, dazu in der freundlichen, verletzungssicheren Gesellschaft von einem Nachttopf aus weichem Gummi. Geschieht ihm recht!
Wie gesagt: Auf eine gewisse Art liebte Tomas „seinen“ großen Schlafsaal. – Na gut, wenigstens meistens …
Einfache Sprache
Der Platz im Schlafsaal war knapp.
Außer den Betten und kleinen Nachttischen
gab es nichts, was den Patienten allein gehörte.
Tomas hatte keinen eigenen Schrank –
nicht mal eigene Unterhosen.
Alle Sachen lagen in einem großen gemeinsamen Schrank.
Da war alles durcheinander:
Hemden, Hosen, Unterwäsche von allen.
Man zog an, was man zuerst fand.
Wer ein Kleidungsstück anhatte,
für den gehörte es eben.
Der große Schrank war in die Wand eingebaut
und nahm kaum Platz weg.
Im Badezimmer, wo es zwei Badewannen gab,
stand noch ein zweiter Schrank –
mit denselben Problemen.
Was einem wirklich selbst gehörte,
war deshalb sehr wichtig!
Wenn Tomas sah,
dass in seinem frisch gemachten Bett
eine Kuhle war,
wurde er richtig sauer.
Dann wusste er:
Jemand hatte sich heimlich auf sein Bett gesetzt.
Ohne zu fragen!
Und das war sein einziger, eigener Platz.
⸻
Enge und Gespräche
Aber die Enge hatte auch gute Seiten.
Wenn Tomas mal nicht so viele Medikamente bekam,
konnte er reden –
und dann ergaben sich viele Gespräche.
Das tat gut.
Denn Menschen brauchen andere Menschen.
Klar:
Das richtige Leben fand im Schlafsaal nicht statt,
aber langweilig war es selten.
Auch wenn Tomas zwei Jahre früher,
als er 14 war,
sich dort sehr allein und vergessen gefühlt hatte.
Fast konnte man sagen:
Die Gespräche im Schlafsaal
waren die beste Therapie für ihn.
Tomas mochte den großen Schlafsaal inzwischen.
Naja – meistens.
⸻
Der Aufschneider
Aber natürlich gab es auch Leute,
die er nicht mochte.
Zum Beispiel den neuen Mann
im Bett rechts neben ihm.
Der war schon älter
und lag seit etwa zwei Wochen dort.
Tomas konnte ihn nicht ausstehen.
Er fand ihn eingebildet
und überheblich.
Der Mann spielte sich oft auf.
Einmal zum Beispiel stand die Kaffeekanne
direkt vor seiner Nase.
Tomas hätte sich nur vorbeugen müssen.
Doch der Mann sagte ganz stolz:
„Du darfst mir den Kaffee einschenken.“
Nur weil Tomas ihm einmal geholfen hatte,
tat der Mann jetzt so,
als wäre Tomas sein Diener.
„So alt und noch so eingebildet“,
dachte Tomas.
⸻
Ein falscher Geburtstag
Ein anderes Mal
erzählte der Mann allen:
Er werde 75 Jahre alt.
Alle feierten mit:
Sie sangen,
schenkten ihm Kleinigkeiten
und freuten sich mit ihm.
Nur Tomas machte nicht mit.
Er wollte nicht singen
und auch nichts spenden.
Zwei Tage später kam raus:
Der Mann war gar nicht 75.
Er war erst 68 –
und hatte noch ein halbes Jahr bis zu seinem Geburtstag.
Das war ganz schön peinlich!
⸻
Nächtliche Ruhe
Um zehn Uhr abends war Schlafenszeit.
Tomas lag pünktlich im Bett.
Das Licht wurde gleich ausgeschaltet.
Er gähnte,
drehte sich auf die Seite
und wollte schlafen.
Meistens war es nachts ruhig.
Die Patienten nahmen Rücksicht.
Doch das Bett von Josef,
gleich neben Tomas’ Kopf,
quietscht schon wieder.
Josef war ein netter Kerl
und hatte oft abends seine Not.
Tomas war das gewohnt.
Er nutzte das gleichmäßige Geräusch,
um einzuschlafen.
Es beruhigte ihn sogar.
⸻
Störung von rechts
Doch dann fing der Mann rechts an zu reden.
Es war der Aufschneider.
Tomas hob den Kopf.
Er war genervt.
Er hatte der jungen Ärztin versprochen,
tagsüber nicht mehr zu schlafen.
Also wollte er nachts wenigstens Ruhe haben.
Aber der Mann redete ohne Pause –
lauter als sonst,
und länger.
„Warum muss der Typ ausgerechnet neben mir liegen?“,
dachte Tomas.
„Jetzt reicht’s!“
Er rief halblaut:
„Mensch, halt endlich die Klappe! Wir wollen schlafen!“
Tomas konnte sowieso nicht einschlafen.
Also setzte er sich auf,
beugte sich zum Mann
und hörte ihm zwei Minuten zu.
Ein Satz war deutlich:
„Ich bin der letzte Kurier des Zaren!“
Tomas schüttelte den Kopf:
„Kurier kannst du auch morgen früh sein!
Jetzt ist Schlafenszeit!“
Er ließ sich wieder ins Bett fallen.
⸻
Grenzüberschreitung
Doch plötzlich krabbelte der Mann auf Tomas’ Bett.
Sein einziger Privatplatz!
Seine Ruhezone!
Der Mann setzte sich schwer auf Tomas’ Beine –
als wollte er dort schlafen
oder Nachtwache halten.
Das ging zu weit!
Tomas war wütend.
Er schubste ihn mit Händen und Füßen weg.
Der Mann schimpfte,
man verstand nur Bruchstücke.
Aber klar war:
Er war jetzt sauer
und wollte sich bei der Nachtwache beschweren.
⸻
Aufruhr im Schlafsaal
Der Mann ging los –
durch den dunklen Gang zum Büro.
Tomas hörte Gesprächsfetzen.
Dann wurde eine Tür laut geöffnet.
Eine zweite Nachtwache kam.
Sie eilte durch den dunklen Schlafsaal.
Jetzt wurde es lauter.
Mehr Stimmen,
mehr Gerede.
Dann führten die beiden Nachtwachen den Mann ab –
je eine Person untergehakt.
Alle schauten zu.
Der Mann wurde aus dem Schlafsaal gebracht.
Wahrscheinlich würde er die Nacht
allein auf einer harten Matratze verbringen –
mit Gummibezug
und kratziger Wolldecke.
Dazu ein weicher Gummi-Nachttopf.
Geschieht ihm recht,
dachte Tomas.
⸻
Fazit
Wie gesagt:
Auf eine besondere Art
mochte Tomas seinen Schlafsaal mit den 16 Betten.
Na gut …
zumindest meistens.