Mein Kopf gehört mir

von Oliver Fahn

Es ist Mittag.
Ich stehe an der Balkontür.
Ich gehe nach draußen auf den Balkon.
Ich beuge mich über das Geländer.
Die Sonne scheint auf mein Gesicht.
Ich sehe hinunter auf die Straße.
Dort ist viel Verkehr.
Die Autos flitzen vorbei.
Sie fahren zu schnell.
Ich wünschte, sie würden bremsen.

 

In meinem Kopf ist es wie auf dieser Straße:
Trubel, immer Chaos.
Es sind zu viele Gedanken.
Ich kann sie nicht sortieren.
Jeder Gedanke braucht meine Aufmerksamkeit.
Es fällt mir schwer zu entscheiden, welche wichtig sind.
Sie rasen durch meinen Kopf.
Ich kann sie nicht stoppen.
Sie hören nie auf.
Ich frage mich, wie sie alle Platz finden.
Manchmal denke ich, mein Kopf wird explodieren.
Es gibt in meinem Kopf keine Ampeln und keine Straßenschilder.
Wie die Autos auf der Straße rasen meine Gedanken
ohne Pause, ohne Rücksicht.
Ich wippe oft mit meinem Fuß.
Damit versuche ich, mich zu beruhigen.

 

Plötzlich lenkt mich etwas ab:
Ich höre einen Hund bellen.
Ich höre nur noch das Bellen.
Es entspannt mich ein bisschen.
Es ist fast wie Musik.
Das Bellen hilft, den Lärm in meinem Kopf zu beruhigen.

 

Dann höre ich, wie jemand näher kommt.
Es ist Lena, meine Frau.
Ich höre ihre Schritte auf den Fliesen,
ohne ein Wort zu sagen.
Trotzdem bemerke ich sie.
Ich werde nervös.
Ich spüre ihre Blicke.
Ich weiß, dass sie mich beobachtet.
Ich drehe mich nicht zu ihr um.

 

Lena merkt sofort, dass etwas nicht stimmt.
Sie spürt, dass ich unruhig bin.
Sie weiß, dass in meinem Kopf Gedanken toben.
Sie ist es gewohnt, dass ich mit dem Fuß wippe.
Das ist ein Zeichen, dass ich nachdenke.
Sie weiß, wie mich die Gedanken verwirren.
Ich bin in meinem Kopf gefangen.

 

Lena fängt an, mit ihrem Fuß zu wippen.
Sie macht mein Verhalten nach.
Das nervt mich.
Sie sagt, sie spiegelt mich.
Sie möchte, dass ich merke, wie ich mich verhalte.
Kann sie nicht verstehen, dass ich wippen muss?
Warum tut sie das?

 

Ich kann Lena nicht erklären, was in meinem Kopf geschieht.
Ich verstehe es ja selbst nicht.
Seit meiner Kindheit bin ich so unruhig.
Ich muss mehr denken als andere Menschen.
Ich kann nicht stillsitzen.
Meine Gedanken zwingen mich, mich zu bewegen.
Ich muss ständig etwas tun, um mich zu beruhigen.

 

Als Kind war ich oft beim Arzt.
Ich erzählte ihm von meinen Gedanken.
Er behauptete, mein Gehirn sei überfordert.
Es empfange zu viele Signale und könne sie nicht verarbeiten.
Ich kann meine Gedanken wirklich nicht einordnen.
Ich weiß nicht, welche von ihnen wichtig sind und welche nicht.
Der Arzt sagte, ich habe zu wenig Kontrolle über meine Impulse.
Er wollte mir Medikamente verschreiben.

 

Meine Mutter wollte das nicht hören.
Sie war sauer.
Sie sagte, dass ich keine Medikamente brauche.
Sie hatte Angst, dass ich von Medikamenten abhängig werde.
Sie dachte, ich würde es auch ohne schaffen.
Bis heute nehme ich keine Medikamente.
Vielleicht würden sie mir helfen,
vielleicht auch nicht.
Niemand weiß genau, was richtig für mich ist.

 

Lena versteht nicht, warum ich keine Medikamente will.
Sie denkt, es würde mir besser gehen, wenn ich sie nähme.
Sie denkt, ich sei stur.
Ich sehe das anders.
Es geht nicht nur um Medikamente.
Ich möchte nicht bevormundet werden.
Ich will entscheiden, was gut für mich ist.
Ich will mir von niemandem sagen lassen, was ich tun soll.
Ich mache Lena ratlos, das weiß ich.
Aber ich will meinen Kopf kontrollieren – vorerst ohne Medikamente.
Ich möchte verstehen, was mit mir los ist.
Ich mag mich nicht einfach ruhigstellen lassen.

 

Mein Kopf gehört mir.
Er ist mein Zuhause
und über mein Zuhause entscheide ich selbst.