Mathilde hat Schmetterlinge im Bauch

von Carmen Schmidt

Mathilde erwachte, gähnte und blinzelte. Sie war eine sehr alte Schildkröte, die während des Winters im Keller in einer schön warm ausgepolsterten Kiste ihren Winterschlaf gehalten hatte. Jetzt erwachte sie zu neuem Leben. Sie hoffe, dass ihre Besitzerin bald nach ihr sehen und sie herausholen würde, denn nun bekam sie einen Riesenhunger. Leider konnte sie nicht bellen wie ein Hund oder miauen wie eine Katze. Sie musste warten. Doch sie hatte Glück. Noch am selben Tag erschien die alte Dame, der sie gehörte, und sah nach ihr.


„Na, mein altes Mädchen, aufgewacht?“, fragte sie. „Das ist ja schön. Draußen scheint die Märzsonne, dein Gehege im Garten ist schon aufgestellt. Du kannst deinen ersten Spaziergang machen. Zu fressen gibt es heute für dich Salat, frischen Löwenzahn und Klee.“


Mathilde freute sich. Tatendurstig schritt sie im Gehege durch das Gras und fraß ihre erste Mahlzeit nach dem langen Winter. Alles schmeckte ihr gut, sie war bester Laune und ließ sich die Sonne auf den Panzer scheinen.


Während sie durch das Gehege wanderte, entdeckte sie plötzlich ein kleines Loch in der Erde. Die Umfassung des Geheges schloss nicht ganz dicht ab. Mathilde kam ein Gedanke. Verstohlen kratzte sie ein bisschen an der Erde, vergrößerte dabei das Loch. Tatsächlich, die Erde war lose, das Loch ließ sich leicht vergrößern. Nach dem langen Winter fühlte Mathilde sich ausgeruht und fit. Sie bekam Lust auf einen langen Nachtspaziergang im Frühling.


Im Laufe des Nachmittags buddelte sie weiter am Loch, aber sie achtete darauf, dass es unauffällig blieb. Die alte Dame sollte nichts bemerken, sich auch keine Sorgen machen. Sie gönnte sich ein Mittagsschläfchen und träumte dabei von einem netten Schildkrötenmann, mit dem sie ihre Tage verbringen könnte. Man ist so jung, wie man sich fühlt, dachte sie. Schließlich sieht man mir meine 30 Jahre nicht an.


In der Nacht vergrößerte sie das Loch so lange, bis sie unter dem Gehege hindurch schlüpfen konnte. Sie fühlte sich frei und unbeschwert, spazierte durch das Gartentor auf die Straße. Der Mond schien hell auf den Gehweg. Sie kam gut voran und marschierte die Straße entlang. Sie war menschenleer bis auf eine kleine Gestalt mit einem Teddybären unter dem Arm, die ihr entgegenkam. Der Junge trug einen Schlafanzug und Hausschuhe. Er hielt die Augen geschlossen und murmelte vor sich hin. Seltsam, dachte Mathilde. Sie ging nachdenklich durch einen Park bis zu einem Gemüseladen. Leider traf sie keinen Schildkrötenmann, aber daran dachte sie im Moment gar nicht. Der kleine Junge beschäftigte sie.


Aus der Ladentür stürzten ein Mann und eine Frau. „Paul, Paul!“, riefen sie. „Wo bist du?“


Der Mann wäre fast über Mathilde gestolpert. „Hoppla“, sagte er, „wen haben wir denn da?“.


Mathilde wollte ihn erst beißen, aber er tat ihr leid. Er suchte sicher seinen Sohn. Leider konnte sie den Menschen nicht erzählen, dass sie ihn gesehen hatte. Die Eltern gingen zurück durch den Park, aus dem Mathilde gerade kam. Da lag Paul schlafend auf einer Parkbank. Seine Mutter nahm ihn behutsam auf den Arm und trug ihn zurück.


Der Mann sah sich Mathilde genauer an. „Du gehörst doch Frau Meyer aus der Ritterstraße Nr. 1, habe ich Recht?“ Er ging mit ihr zu dem Haus und klingelte. Margarete Meyer öffnete verschlafen. Er hielt ihr die Schildkröte entgegen. „Sie gehört Ihnen, stimmt‘s?“, fragte er. Margarete nickte. „Die kleine Ausreißerin kam uns auf der Straße entgegen. Unser Sohn ist mal wieder im Schlaf gewandelt. Wir mussten ihn suchen.“


Frau Meyer bedankte sich und nahm Mathilde. „Du übernachtest heute in deiner Winterschlafkiste, meine Kleine“, sagte sie. „Anscheinend muss man nachts gut auf dich aufpassen. Was ist bloß mit dir los? Frühlingsgefühle?“


Mathilde wurde in die Kiste gelegt, die Frau Meyer neben ihr Bett stellte. Sie ärgerte sich über sich selbst. Das hatte sie davon. Trotzdem fand sie den nächtlichen Spaziergang im Frühling schön. Aber nun würde sie erst mal schlafen.


Am nächsten Tag stellte Margarete das Gehege auf einen anderen Platz. Sie hatte das Loch entdeckt, durch das Mathilde entkommen war. Die Schildkröte spazierte wütend durch ihr Gehege. Sie machte wieder ihr Mittagsschläfchen, als Geräusche an ihr Ohr drangen. Margarete stand neben dem Gehege, öffnete einen Pappkarton und nahm ein Tier heraus. „Das ist Rudolf“, meinte sie, „damit du nicht mehr so alleine bist. Anscheinend sehnst du dich nach Gesellschaft.“


Mathilde betrachtete den Schildkrötenmann genau. Stattlich sah er aus, etwas größer als sie. Er gefiel ihr ausnehmend gut. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Sie erlebte etwas, das die Menschen mit Schmetterlingen im Bauch bezeichnen würden.


Margarete Meyer beobachtete lächelnd eine Weile die beiden Tiere, die sich zögernd näherten. Sie schienen sich auf Anhieb gut zu verstehen, schritten Seite an Seite durch das Gehege und fraßen ab und an etwas Löwenzahn.


„Ach, der Frühling ist doch schön“, seufzte sie und ging zurück ins Haus. Vielleicht sollte sie den netten Nachbarn mal zu einem Kaffee einladen. Dieser Frühling könnte auch für sie ein Neuanfang werden.

Einfache Sprache

Mathilde wachte auf.
Sie gähnte und blinzelte.

 

Mathilde war eine sehr alte Schildkröte.
Den Winter hatte sie in einer warmen Kiste im Keller verschlafen.
Jetzt war sie wieder wach
und freute sich auf das neue Leben im Frühling.

 

Sie hatte großen Hunger.
Aber sie konnte sich nicht bemerkbar machen,
wie ein Hund mit Bellen
oder eine Katze mit Miauen.
Also musste sie warten.

 

Zum Glück kam ihre Besitzerin noch am selben Tag in den Keller.

 

„Na, mein altes Mädchen, bist du aufgewacht?“,
fragte die Frau freundlich.
„Das ist schön. Draußen scheint die Märzensonne,
und dein Gehege im Garten steht schon bereit.
Heute bekommst du Salat, frischen Löwenzahn und Klee.“

 

Mathilde freute sich sehr.
Sie ging tatendurstig durch das Gehege,
fraß das frische Grün
und ließ sich die Sonne auf den Panzer scheinen.
Sie war glücklich.

 

Ein Plan entsteht

 

Beim Spazieren im Gehege
entdeckte Mathilde ein kleines Loch in der Erde.

 

Der Zaun vom Gehege war an dieser Stelle nicht ganz dicht.
Mathilde bekam eine Idee.

 

Sie kratzte ein wenig mit ihren Krallen
und machte das Loch größer.
Die Erde war locker – das ging ganz leicht.

 

Mathilde fühlte sich fit nach dem langen Schlaf.
Sie hatte Lust auf ein Abenteuer –
einen Spaziergang in der Frühlingsnacht.

 

Am Nachmittag buddelte sie vorsichtig weiter.
Aber sie passte auf,
dass ihre Besitzerin nichts bemerkte.

 

Nach dem Essen machte sie ein Nickerchen
und träumte von einem netten Schildkrötenmann.

 

„Man ist so jung, wie man sich fühlt“,
dachte sie.
„Man sieht mir meine 30 Jahre gar nicht an.“

 

Der nächtliche Ausflug

 

In der Nacht grub Mathilde so lange,
bis das Loch groß genug war.
Dann schlüpfte sie hindurch.

 

Sie fühlte sich frei.
Sie ging durch das Gartentor
und auf die Straße.

 

Der Mond schien hell,
die Straße war leer –
nur ein kleiner Junge kam ihr entgegen.

 

Er trug einen Schlafanzug und Hausschuhe,
hielt einen Teddybär
und hatte die Augen geschlossen.

 

„Seltsam“, dachte Mathilde
und lief weiter durch den Park
bis zu einem Gemüseladen.

 

Einen Schildkrötenmann traf sie nicht –
aber daran dachte sie gerade nicht.

 

Ein kleiner Junge wird gesucht

 

Plötzlich stürmten ein Mann und eine Frau aus dem Laden.

 

„Paul! Paul! Wo bist du?“, riefen sie.

 

Der Mann wäre fast über Mathilde gestolpert.
„Hoppla! Wer bist du denn?“, sagte er.

 

Mathilde wollte ihn zuerst beißen,
aber sie hatte Mitleid.
Er suchte bestimmt sein Kind.

 

Leider konnte sie nicht sagen,
dass sie den Jungen gesehen hatte.

 

Die Eltern liefen zurück in den Park.
Dort fanden sie Paul.
Er schlief auf einer Bank.

 

Die Mutter nahm ihn liebevoll auf den Arm.

 

Rückkehr nach Hause

 

Der Mann schaute Mathilde genau an.

 

„Du gehörst doch zu Frau Meyer aus der Ritterstraße 1, oder?“
Er nahm sie mit, klingelte bei Frau Meyer.

 

Sie öffnete verschlafen.
Er hielt ihr Mathilde entgegen.

 

„Die gehört Ihnen, stimmt‘s?“, fragte er.

 

Frau Meyer nickte.
„Die kleine Ausreißerin ist uns auf der Straße entgegengekommen.
Unser Sohn ist wieder im Schlaf gewandelt.
Wir haben ihn gesucht.“

 

Frau Meyer bedankte sich
und nahm Mathilde auf den Arm.

 

„Heute schläfst du wieder in deiner Kiste“,
sagte sie.
„Man muss wohl besser auf dich aufpassen.
Hast du Frühlingsgefühle?“

 

Sie stellte die Kiste neben ihr Bett.
Mathilde war ein wenig verärgert über sich selbst.
Aber der Ausflug war trotzdem schön.
Jetzt wollte sie erst mal wieder schlafen.

 

Ein neuer Freund

 

Am nächsten Tag stellte Frau Meyer das Gehege an eine andere Stelle.
Sie hatte das Loch entdeckt.

 

Mathilde war sauer
und lief unruhig im Gehege herum.

 

Mittags machte sie ein Nickerchen.
Plötzlich hörte sie Geräusche.

 

Frau Meyer stand neben dem Gehege
und öffnete einen Karton.

 

Darin war eine weitere Schildkröte.

 

„Das ist Rudolf“, sagte sie.
„Jetzt bist du nicht mehr allein.
Du wünschst dir wohl Gesellschaft.“

 

Mathilde schaute Rudolf an.
Er war etwas größer
und sah gut aus.

 

Ein warmes Gefühl durchströmte sie.
So etwas nennen die Menschen „Schmetterlinge im Bauch“.

 

Frühling für alle

 

Frau Meyer lächelte.

 

Sie beobachtete,
wie sich die beiden Schildkröten langsam näherten
und Seite an Seite durchs Gehege liefen.
Ab und zu fraßen sie ein bisschen Löwenzahn.

 

„Ach, der Frühling ist schön“,
seufzte sie
und ging zurück ins Haus.

 

Vielleicht, dachte sie,
sollte auch sie den netten Nachbarn mal zu einem Kaffee einladen.
Dieser Frühling
könnte auch für sie ein neuer Anfang sein.