Familiensinn
von Conny Albert
Lilly Jacobsen, ein zehnjähriges Mädchen mit Down Syndrom, lernte in der Grundschule einen Jungen kennen, der neu in die Klasse kam. Einziges Problem: Keiner konnte ihn sehen.
„Da steht keiner“, sprach Linda aus Lillys Klasse.
„Er hat mir erzählt, dass er Norris heißt und aus Grauland kommt“, entgegnete Lilly.
„Da steht keiner“, wiederholte Linda.
„Wie du meinst! Also ich gehe mit Norris spielen.“
Lilly ließ ihre Mitschülerin stehen, die sich selbst an die Stirn tippte und „Spinnerin“ schimpfte. Doch das war Lilly egal. Sie war solche Beleidigungen bereits gewohnt. Deswegen ignorierte Lilly die Worte ihrer Mitschülerin und ging zum Abenteuerspielplatz, der sich ganz in der Nähe der Schule befand. Dort angekommen setzte sie sich auf die große Reifenschaukel und schaukelte zusammen mit ihren unsichtbaren Freunden, denn auch Carola und Cooper existierten für die „normalen“ Kinder nicht.
„Wir brauchen die anderen nicht, wir haben unsere Fantasie. Dann spielen wir eben ohne diese doofen Mädels wie Linda.“ Um schnell das Thema zu wechseln, stellte Lilly dem Neuen ihre anderen Freunde vor. „Ich bin Norris, der Käferjäger“, sprach der Junge fröhlich.
Nach der Pause hatten die Viertklässler eine Doppelstunde Religion bei Frau Morrison. Während des Unterrichts wurde Lilly wieder einmal mit Papierkugeln beworfen, was sie sofort der Religionslehrerin meldete. Daraufhin schimpfte Frau Morrison mit Alex. Er wurde ermahnt, solche Faxen in Zukunft zu unterlassen, ansonsten drohe ihm ein Schulverweis. Erst dann gab der Störenfried Ruhe.
Gleich nach dem Religionsunterricht war der Schultag der Viertklässler zu Ende, da Herr Schulz, der Sportlehrer, kurzfristig erkrankt war. So rannte Lilly nach Hause. Sie hatte eine Idee für ein fantasievolles Abenteuer.
Lilly rannte auf ihr Zimmer. Dabei fiel ihr Blick auf Janina, eine Puppe, die unter ihrer Treppe ruhte. Dazu fiel der Schülerin etwas ein, dass sie mit ihrer ursprünglichen Idee kombinierte. Zusammen mit Norris, dem Käferjäger, gründete Lilly eine Familie mit zwei Kindern. Sie nannte die Kinder Janina und Josh und das, obwohl sie in Wirklichkeit lediglich eine Puppe besaß. Dank Lillys großer Fantasie konnte sie sich gut vorstellen, dass ihre Puppe Janina noch einen Zwillingsbruder hatte, der zur gleichen Zeit wie Janina auf die Welt gekommen war.
Anschließend bauten sich Lilly und Norris aus Bausteinen ein Haus für ihre Familie.
Janina fragte: „Mama, spielst du mit mir?“
Lilly antwortete: „Ja, mein Schatz, ich spiele mit dir.“
Josh forderte: „Papa, ich will Autofahren.“
Und Norris erwiderte: „Dann fahre ich mit dir.“
Nach einer Weile schlich sich Lilly in das Zimmer ihres jüngeren Bruders Laurenz und stibitze sich das große Polizeiauto, das sie mit auf ihr Zimmer nahm. „Tatü, tata, tatü, tata!“
Irgendwann meldete sich Cooper: „Was spielt ihr denn da Schönes?“
„Wir sind eine glückliche Familie und leben auf einem Bauernhof“, ertönte die Stimme von Norris. „Mit Kühen und Schweinen und Schafen und Hühnern.“
Lilly spielte mit ihren Freunden drei Stunden lang, bis ihre Mutter ins Kinderzimmer kam. „Lillymaus, es ist schon spät. Machst du bitte Schluss für heute? Es ist kurz vor Mitternacht. Und du musst doch morgen in die Schule. Wenn du nicht ins Bett gehst, bist du nicht ausgeschlafen und kommst morgen früh nicht raus.“
„Ja, ich mach gleich Schluss“, sprach Lilly. Sie sagte ihrer „Tochter“ Janina und ihrem „Sohn“ Josh noch gute Nacht, dann marschierte sie ins Bad zum Zähne putzen.
„Das hat heute Spaß gemacht“, lachte Norris.
„Ihr seid eine tolle Familie“, sprach Cooper.
„Morgen ist auch noch ein Tag für Abenteuer“, gähnte Lilly.
Am nächsten Tag nahm Lilly ihre ‚Familie‘ mit in die Schule. Sie stellte ihren Klassenkameraden Janina, Josh und Norris vor. Aber die Jungs lachten Lilly aus. Die Mädchen grinsten.
„Das ist doch nur eine Puppe. Wenn sie das Mädchen ist, wo ist dann der Junge?“, fragte Nadja.
„Den müsst ihr euch vorstellen. Wo ist denn eure Fantasie?“
„Na davon hast du ja genug.“
Da die anderen immer lauter lachten, konnte Lilly nicht anders, als heulend aus dem Klassenzimmer nach draußen auf den Flur zu rennen. „Die sind doch alle bescheuert.“
Der Lehrer folgte ihr. „Du kannst nicht einfach mitten im Unterricht abhauen“, betonte er.
„Aber wenn die mich auslachen“, heulte Lilly, „dann will ich lieber nach Hause.“
„Zeig mal! Ich finde, du hast eine schöne Puppe.“
„Die hat mir meine Mutter geschenkt, da war ich noch ganz klein. Die hatte ich schon im Buggy in der Hand, das hat jedenfalls meine Mama gesagt.“
„Also mir gefällt die Puppe“, sprach der Lehrer.
„Das ist Janina und ihr Bruder heißt Josh. Wir haben gestern Abend gespielt, dass wir eine glückliche Familie sind und auf einem Bauernhof leben. Norris ist der Vater. Er ist Bauer und kümmert sich um die Tiere.“
Lilly deutete neben sich, wo die Heizkörper der Schule angebracht waren. „Da steht Norris. Also nicht wirklich, aber das müssen Sie sich vorstellen. Ich habe ihn gestern kennengelernt.“
Der Lehrer lächelte, obwohl er den Ernst der Situation erkannt hatte.
„Du hast eine große Fantasie, Lilly. Gehen wir bitte wieder rein. Ich werde den anderen erklären, dass sie nicht über dich lachen sollen. Sonst muss die ganze Klasse nachsitzen, nur du nicht, weil du mir die Wahrheit gesagt hast.“
Lilly schluckte. Sie wischte sich mit einer Hand die Tränen aus dem Gesicht. „Das ist wie bei Carola und Cooper. Die kann man leider auch nicht sehen. Ich weiß aber, dass sie da sind.“
Der Lehrer streichelte Lilly über den Kopf.
„Ist es denn so verkehrt an Geister zu glauben?“
„Nein! Jeder darf an etwas glauben. Deine Fantasie kann dir keiner wegnehmen. Die ist hier drin in deinem Kopf.“
Der Lehrer tippte Lilly auf die Stirn. „Was da drin ist, das bleibt auch da drin. Wenn jemand darüber lacht, weil er es nicht versteht, dann hat er keine Ahnung von deiner Welt.“
Lilly nickte. „Danke.“
Erst nach dem Unterricht ging es Lilly etwas besser. Sie schnappte sich ihre Puppe und rannte zum Abenteuerspielplatz. Sie spielte, dass ihre ‚Familie‘ eine Sandburg baute und danach zusammen schaukelte.
„Lass die anderen reden. Wir wissen es besser. Du hast tolle Ideen und eine große Fantasie. Wie dein Lehrer schon richtig sagt, kann dir das keiner wegnehmen. Wir werden immer bei dir sein, ganz egal, was auch passiert“, kommentierte Cooper, um Lilly zu trösten.
„Die verstehen unsere Welt nicht“, flüsterte Carola.
„Schau mal, Janina kann ganz alleine schaukeln“, rief Norris.
Lilly setzte beide Schaukeln in Bewegung. Die linke, auf die sie sich selber setzte und die rechte, auf der ihre Puppe saß. Dazu stimmte die Viertklässlerin ein Lied an.
„Wir sind die Familie vom großen Bauernhof. Alle, die uns nicht kennen, die sind selber doof. Darum bauen wir uns unsere eigene Welt. Wir erschaffen das, was uns gut gefällt. Wir sind echte Freunde und sind auch nicht allein. Denn die Fantasie wird immer bei uns sein.“
„Du kannst dich gut selbst trösten“, bemerkte Cooper.
„Wir sind eine richtige Familie“, kommentierte Norris. „Wer was anderes sagt, der hat nur Stroh im Kopf.“
Lilly sprang von der Schaukel und ging mit ihrer ‚Familie‘ zur Rutsche.
„Achtung, hier kommt die Power-Bauernfamilie. Attacke!“
Unten angekommen konnte Lilly wieder lachen.
„Siehst du. Ist doch halb so wild“, tröstete Cooper seine Freundin.
„Die anderen haben viele Freunde, aber sicher nicht so viel Spaß wie du“, kicherte Carola.
„Die sind ja auch normal. Und ich bin was Besonderes“, erwiderte Lilly. In diesem Moment war die Viertklässlerin richtig stolz auf ihre Besonderheit.
Nach einer Weile des Grübelns fügte Lilly hinzu: „Ich habe vielleicht keine Freunde aus Fleisch und Blut, aber ich bin glücklich.“
„Denk dran, du bist nicht allein, wir werden immer bei dir sein“, reimte Cooper.
„Da hast du Recht. Wer uns nicht kennt, der hat Pech gehabt!“
Einfache Sprache
Lilly Jacobsen ist ein zehnjähriges Mädchen mit Down-Syndrom.
In der Schule lernt sie einen Jungen kennen,
der neu in ihre Klasse kommt.
Aber es gibt ein Problem:
Niemand außer Lilly kann ihn sehen.
„Da steht doch niemand!“, sagt Linda aus Lillys Klasse.
„Doch, er heißt Norris und kommt aus Grauland“, sagt Lilly.
„Da steht aber wirklich niemand“, wiederholt Linda.
„Wie du meinst. Ich gehe jetzt mit Norris spielen.“
Lilly geht einfach weg.
Linda tippt sich an die Stirn und nennt Lilly „Spinnerin“.
Aber das ist Lilly egal.
Sie kennt solche Worte schon und lässt sich davon nicht ärgern.
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Der Abenteuerspielplatz
Lilly geht zum Abenteuerspielplatz in der Nähe der Schule.
Dort setzt sie sich auf die große Reifenschaukel
und schaukelt zusammen mit ihren unsichtbaren Freunden:
Carola, Cooper – und jetzt auch Norris.
„Wir brauchen die anderen nicht“, sagt Lilly.
„Wir haben unsere Fantasie. Dann spielen wir eben ohne die doofen Mädchen wie Linda.“
Dann stellt sie Norris ihre anderen Freunde vor.
Norris sagt fröhlich: „Ich bin Norris, der Käferjäger!“
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Religion und Papierkugeln
Nach der Pause haben die Viertklässler Religion bei Frau Morrison.
Im Unterricht wird Lilly wieder mit Papierkugeln beworfen.
Sie sagt sofort Frau Morrison Bescheid.
Die Lehrerin schimpft mit Alex:
Wenn er noch einmal jemanden bewirft,
kann er von der Schule fliegen.
Danach ist Ruhe.
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Ein neues Spiel zu Hause
Nach der Schule rennt Lilly nach Hause.
Sie hat eine neue Spielidee.
In ihrem Zimmer sieht sie ihre Puppe Janina.
Sie holt sie hervor und denkt sich etwas aus:
Janina hat einen Zwillingsbruder, Josh.
Zusammen mit Norris spielt Lilly Familie.
Sie bauen aus Bausteinen ein Haus.
Janina sagt: „Mama, spielst du mit mir?“
Lilly antwortet: „Ja, mein Schatz.“
Josh ruft: „Papa, ich will Autofahren!“
Norris sagt: „Dann fahre ich mit dir.“
Lilly schleicht sich ins Zimmer ihres kleinen Bruders Laurenz
und nimmt heimlich das große Polizeiauto mit.
„Tatü, tata!“, ruft sie.
Dann fragt Cooper: „Was spielt ihr denn da Schönes?“
Norris antwortet: „Wir sind eine Familie auf einem Bauernhof.
Mit Kühen, Schweinen, Schafen und Hühnern.“
Lilly spielt fast drei Stunden lang.
Dann kommt ihre Mutter ins Zimmer.
„Lillymaus, es ist spät. Geh bitte schlafen. Es ist bald Mitternacht.
Du musst morgen wieder in die Schule.“
„Ich geh gleich“, sagt Lilly.
Sie wünscht Janina und Josh eine gute Nacht
und geht Zähne putzen.
„Das war ein schöner Tag“, sagt Norris.
„Ihr seid eine tolle Familie“, sagt Cooper.
„Morgen ist auch noch ein Tag für Abenteuer“, gähnt Lilly.
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Lilly in der Schule
Am nächsten Tag nimmt Lilly ihre „Familie“ mit in die Schule.
Sie zeigt den Kindern Janina, Josh und Norris.
Die Jungen lachen sie aus.
Die Mädchen grinsen.
„Das ist doch nur eine Puppe“, sagt Nadja.
„Und wo ist der Junge?“
Lilly sagt: „Den müsst ihr euch vorstellen. Wo ist eure Fantasie?“
„Na, du hast ja genug davon“, ruft jemand.
Alle lachen laut.
Lilly wird traurig und rennt aus dem Klassenzimmer.
„Die sind doch alle blöd“, weint sie.
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Ein Gespräch mit dem Lehrer
Der Lehrer folgt ihr auf den Flur.
„Du kannst nicht einfach weglaufen“, sagt er.
„Aber sie haben mich ausgelacht“, schluchzt Lilly.
„Ich will nach Hause.“
„Zeig mal!“, sagt der Lehrer.
„Ich finde, deine Puppe ist schön.“
Lilly erklärt:
„Die hat mir meine Mama geschenkt, als ich noch ganz klein war.“
„Sie heißt Janina. Ihr Bruder ist Josh.
Gestern haben wir gespielt, dass wir eine Familie auf einem Bauernhof sind.
Norris ist der Papa und kümmert sich um die Tiere.“
Sie zeigt neben sich:
„Da steht Norris. Also nicht wirklich – aber man muss ihn sich vorstellen.“
Der Lehrer lächelt.
Er merkt, dass Lilly traurig ist.
„Du hast eine tolle Fantasie, Lilly.
Komm, wir gehen zurück ins Klassenzimmer.
Ich sage den anderen, dass sie dich nicht auslachen dürfen.
Sonst müssen alle nachsitzen – nur du nicht.“
Lilly nickt und wischt sich die Tränen ab.
„Carola und Cooper kann man auch nicht sehen.
Aber sie sind da.“
Der Lehrer streichelt ihr über den Kopf.
„Ist es denn schlimm, an Geister zu glauben?“
„Nein“, sagt Lilly.
„Was du dir vorstellst, ist in deinem Kopf.
Das kann dir niemand wegnehmen.
Und wer darüber lacht, versteht deine Welt nicht.“
„Danke“, sagt Lilly leise.
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Ein Lied für die Fantasie
Nach dem Unterricht geht es Lilly besser.
Sie läuft zum Abenteuerspielplatz
und spielt mit ihrer Familie.
Sie bauen eine Sandburg
und schaukeln zusammen.
„Die anderen verstehen unsere Welt nicht“, sagt Carola.
„Aber das ist egal“, sagt Cooper.
„Wir wissen, was wir haben.“
„Janina kann ganz alleine schaukeln!“, ruft Norris.
Lilly schaukelt auf der einen Seite,
Janina auf der anderen.
Dann singt Lilly ein Lied:
„Wir sind die Familie vom großen Bauernhof.
Alle, die uns nicht kennen, sind selber doof.
Darum bauen wir uns unsere eigene Welt.
Wir machen das, was uns gut gefällt.
Wir sind echte Freunde, wir sind nie allein.
Denn Fantasie wird immer bei uns sein.“
„Du kannst dich gut selbst trösten“, sagt Cooper.
„Wir sind eine richtige Familie“, sagt Norris.
„Wer das nicht versteht, hat Stroh im Kopf.“
Lilly rutscht mit ihrer Familie.
„Achtung! Hier kommt die Power-Bauernfamilie!“
Unten angekommen lacht Lilly.
„Ist doch gar nicht so schlimm“, sagt Cooper.
„Die anderen haben viele Freunde,
aber bestimmt nicht so viel Spaß“, kichert Carola.
„Die sind halt normal. Und ich bin etwas Besonderes“,
sagt Lilly stolz.
Dann sagt sie noch:
„Ich habe vielleicht keine Freunde aus Fleisch und Blut,
aber ich bin glücklich.“
„Denk dran: Du bist nicht allein.
Wir sind immer für dich da“, sagt Cooper.
„Stimmt! Und wer uns nicht kennt,
der hat echt was verpasst!“, ruft Lilly.