Der Sturm der Klarheit
von Christian Müller
Es war Mitte September. Der Tag neigte sich dem Ende zu und die letzten Sonnenstrahlen begannen langsam zu verblassen, als ich mit meiner Frau vom Einkaufen kam. Nachdem ich einen geeigneten Parkplatz gefunden hatte, stellte ich unseren Kleinwagen in der Nähe unserer Mietwohnung ab. Da wir einen kleinen Einkauf der notwendigsten Dingen getätigt hatten, gab es nur eine kleine Einkaufstasche, die meine Frau mit Leichtigkeit tragen konnte. Nachdem wir ausgestiegen waren und ich den Wagen abgeschlossen hatte, wandte ich mich meiner Frau zu und sagte: „Ich gehe noch zum See.“
„Was willst du?“, fragte sie mich mit fassungsloser Stimme und ihre dunkelbraunen Augen schienen mich aufspießen zu wollen. „Lass das sein!“, forderte sie forsch.
„Nein, ich werde jetzt gehen.“, wiedersprach ich energisch. Meine Frau merkte, dass mich nichts von meinem Vorhaben abbringen würde.
„Warum willst du jetzt gehen?“, hakte meine Frau nach, die immer noch versuchte, mich von meinem Vorhaben abzuhalten. „Es wird gleich dunkel werden.“
Mit einer flüchtigen Geste winkte ich ab und erklärte: „Bis dahin bin ich längst wieder zurück. Den langen Weg durch den Wald will ich auch nicht gehen. Stattdessen nehme ich die kurze Strecke, die am Tierheim vorbeiführt. Ehe du mich vermisst, bin ich wieder zu Hause.“
„Ok, wenn du es wirklich machen musst.“
„Das muss ich. Bis später.“, entgegnete ich bloß, verlor keine Zeit und lenkte meine Schritte vom Parkplatz weg. Mit zügigen Schritten überquerte ich die Straße und folgte einem Feldweg, der sich zwischen dem nahen Wald und einigen Häusern schlängelte. Als ich das weitere schwinden des Tageslichtes bemerkte, waren meine folgende Gedanken, dass ich doch noch für eine gewisse Zeit im Dunkeln unterwegs sein würde. Doch dies schreckte mich keineswegs. Es wäre nicht mein erster Nachtspaziergang durch einem Wald, was ich als vielseitiges Abenteuer ansah. Das schreien einer Eule und das Rascheln des Laubes, was von Kleintieren stammte, die eifrig durch das Unterholz huschten, war doch sehr aufregend gewesen. Sorgen um meine Sicherheit, hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht und meine Augen genügten das spärlichen Licht von Mond und Sterne. Damit meine Frau auf meiner Rückkehr nicht lange warten musste, ging ich zügigen Schrittes. Ich kam an einem kleinen Bauernhof vorbei. Nach wenigen Minuten war links von mir ein freier Acker und rechts befanden sich große Schrebergärten. Nachdem ich eine Hauptstraße überqueren musste, folgte ich einem Weg, der an dem Tierheim vorbeiführte. Von hohen Gitter umzäunt, hatte dieses Gebäude etwas bedrückendes an sich. Auf dem großen Parkplatz nebenan stand ein roter Kleinwagen. Rechts von mir sah ich schon die ersten Bäume des Waldes, in dessen Zentrum sich mein Ziel befand. Zügig folgte ich dem Pfad, der in den Wald führte . Noch war es hell genug, aber es wurde immer dunkler. Im Stillen dankte ich meine Frau für ihr Verständnis. Es war spät, ja. Aber ich musste zu dem kleinen See, um über einiges nachzudenken. An diesem naturbelassenen Ort, konnte ich zu mir selbst finden. An eine Kreuzung angelangt, ging ich weiter geradeaus, an einem alten Haus vorbei, um nach weiteren fünf Minuten den besagten See zu erreichen. Dieser war vom Wald umgeben und hatte die Größe von zwei Fußballfeldern. Ein kräftiger Wind kam auf und durchfuhr das Blätterdach, was ein lautes Rauschen erzeugte. Trotz des aufkommenden Windes wirkte dieser Ort beruhigend auf mich. In seinem Zentrum schwammen verschiedene Vögel, die auf dem tiefen Wasser Schutz vor Raubtieren suchten. Der Pfad endete abrupt am Ufer. Dort setzte ich mich auf einen großen Stein und ließ meine Gedanken in die nahe Vergangenheit schweifen. Vor einen Monat war ich wegen Schluckbeschwerden ins Krankenhaus eingeliefert worden. Es folgten viele Untersuchungen, was mich beunruhigte. Bei einer Visite kam der Chefarzt zu mir, um zu erklären, dass ich Speisenröhrenkrebs habe. Ein Donnergrollen ließ mich zum Himmel blicken. Dunkle Wolken schoben sich langsam von Osten mir entgegen. Der Wind wurde stärker und schüttelte mit unbändiger Kraft an den Baumkronen. Es wurde immer ungemütlicher. Trotzdem war ich noch nicht dazu bereit, nach Hause zu gehen. Stattdessen wanderten meine Gedanken erneut zurück zu den vergangenen Tagen, wie ich mich bei einer Onkologin anmeldete und eine Woche darauf meine erste Chemotherapie bekam.
„Wir dürfen keine Zeit verlieren.“, hatte die Ärztin gesagt. Ich hatte Glück, dass der Krebs im Anfangsstadium war und er nicht gestreut hatte. Somit blieb mir Zeit, um gegen diese Krankheit anzukämpfen. Zeit? Ich fragte mich, wie viel Zeit ich in Wirklichkeit überhaupt hatte. Meine Frau recherchierte im Internet, um mir anschließend von Menschen mit der gleichen Krankheit zu berichten, die schon bei der Chemo oder anschließenden Operation verstarben. Morgen sollte ich meine dritte Chemo bekommen. Drei weitere würden Folgen, bevor der Krebs bei einer Operation herausgeschnitten werden sollte. Danach kämen sechs Chemos, um die verbliebenen Krebszellen vollends zu beseitigen. Ein Donnergrollen holte mich in die Gegenwart zurück. Die dunklen Regenwolken hatten sich weiter ausgebreitet und erreichten den Wald. „Scheiße!“, fluchte ich laut und begann in gemächlichen Trab zurückzueilen. Erste Regentropfen prasselten auf mich herab. Zuerst war es ein leichter Schauerregen, der aber schnell an Stärke zunahm. Da meine Kleidung in wenigen Augenblicken von dem kalten Regenwasser durchtränkt sein würde, beschloss ich schneller zu laufen, auch wenn ich es nicht die gesamte Strecke durchhalten würde. Wärend ich lief, verdichteten sich die Sturmwolken immer weiter.
Eine gezackte Feuerzunge brach aus den weiter aufkommenden Sturmwolken hervor und nach einem ohrenbetäubenden Donner verlangsamten sich meine Schritte, bis sie vollständig zum Stillstand kahm. Der Blitz war gefährlich nah gewesen. Doch statt der Angst, regte sich der Zorn in mir. „So willst du mich also jetzt töten?“, rief ich zum Himmel empor. „Reicht dir der Krebs nicht?“
Als Antwort durchzuckte ein weiterer Blitz den sturmgetränkten Himmel, was mich weiter laufen ließ und das schneller als zuvor. Von dem beginnenden Sturm weiter gebeutelt, hatte ich das große Gebäude des Tierheims erreicht, überquerte die Hauptstraße und war an den Schrebergärten angekommen. Scharfer Wind und kalter Regen peitschten mir aus östlicher Richtung entgegen. Meine Kleidung war bereits mit dem kalten Regenwasser vollgesogen. In regelmäßigen Abständen blickte ich zu den Blitzen empor und erwartetet jeden Augenblick deren tödliche Umarmung. Nun, wenn es so sein soll, überschlugen sich meine Gedanken, wenn ich unbedingt sterben soll, dann mach es jetzt.
Ich fühlte eine tiefe Erschöpfung. Einfach stehen zu bleiben, um schließlich doch noch vom Blitz getroffen zu werden, war für mich keine Option. Zielstrebig lief ich weiter. Meine Lungen begannen zu schmerzen und ich hatte Schwierigkeiten, genügend Luft einzuatmen. Mein Körper verlangte nach einer Pause und so hielt ich an, um zu neuen Kräften zu kommen. Nachdem ich es geschafft hatte, meine Atmung etwas ruhiger zu gestalten, ging ich langsam weiter, tief ein und ausatmend. So plötzlich, wie die Blitze den Himmel durchfuhren, so kam in mir ein Wunsch auf, der sich tief in meinen Geist einbrennen sollte. Ich will nicht sterben, ich will weiter leben! Tief in mich gehend, mobilisierte ich weitere Krafft Reserven, um von neuem weiter zu laufen und das schneller als vorher. Nun hatte ich den kleinen Bauernhof erreicht und weitere Augenblicke des Laufens, brachten mich bis zum Ende des Feldweges. In wenigen Minuten würde ich bei meiner Frau, im sicherem zuhause sein. Weitere Blitze durchzuckten den Himmel und wirkten wie feurige Schlangenzungen in den bewegten Sturmwolken. Sie waren nah, sehr nah. Würden sie mich vor meiner Haustür treffen? Das wäre nicht fair! Aber auf dieser traurigen Welt, ist vieles nicht fair! Ich wischte diesen Gedanken beiseite und lief immer weiter, bis ich es endlich zu unserer Wohnung schaffte. Ich war in Sicherheit. Nun ja, trotzdem war ich erneut einen Donnersturm ausgesetzt. Aber diesmal kam dieser lediglich von meiner Frau, die mir vorhielt, wie gefährlich mein Handeln gewesen war. „Musste dieser Spaziergang wirklich sein?“, zeterte sie.
„Ja, das musste er.“, kam meine Antwort und mit wenigen Handgriffen entledigte ich mich meiner nassen Bekleidung, um in die Dusche zu steigen. Während das warme Wasser meine kalten Gliedmaßen aufwärmte, huschte ein Lächeln über mein Gesicht. Ja, es war gefährlich, doch ich habe es überstanden. Es war beschwerlich, doch ich habe es geschafft. Offenbar hat Gott nicht vor gehabt, mich zu sich zu holen. Dies machte mir Hoffnung und Mut. Der Sturm, wie auch die Krankheit, sind meine Prüfungen, die ich zu meistern habe. Sie zeigen nicht das Ende, sondern den Anfang von etwas Neuem auf.
Einfache Sprache
Es war Mitte September.
Der Tag war fast vorbei,
die letzten Sonnenstrahlen verblassten langsam.
Ich war gerade mit meiner Frau vom Einkaufen zurückgekommen.
Wir hatten nur ein paar Dinge besorgt.
Meine Frau trug die kleine Einkaufstasche.
Ich stellte unser Auto in der Nähe unserer Wohnung ab.
Als wir ausstiegen, sagte ich zu ihr:
„Ich gehe noch zum See.“
Sie schaute mich entsetzt an.
„Was willst du?“, fragte sie scharf.
„Lass das lieber!“
„Nein, ich will das jetzt“, sagte ich bestimmt.
Sie merkte, dass ich mich nicht aufhalten lassen würde.
„Aber es wird bald dunkel“, warnte sie.
Ich winkte ab.
„Bis dahin bin ich zurück. Ich nehme den kurzen Weg – am Tierheim vorbei.
Ich bin wieder da, bevor du mich vermisst.“
Sie seufzte. „Na gut, wenn du meinst.“
„Ja, das muss ich. Bis später.“
Ich machte mich direkt auf den Weg.
Ich ging schnell los, überquerte die Straße
und folgte einem Feldweg, der am Wald entlangführte.
Es wurde dunkler,
aber das störte mich nicht.
Ich war schon öfter nachts im Wald gewesen.
Ich mochte die Geräusche:
Das Rufen der Eulen,
das Rascheln der Tiere im Unterholz –
es war aufregend.
Ich hatte keine Angst.
Der Mond und die Sterne gaben genug Licht.
Ich ging schnell, damit meine Frau nicht so lange auf mich warten musste.
Ich kam an einem Bauernhof vorbei.
Links war ein freier Acker,
rechts Schrebergärten.
Dann überquerte ich eine Straße
und ging am Tierheim vorbei.
Hohe Gitterzäune machten es ein bisschen unheimlich.
Auf dem Parkplatz stand ein rotes Auto.
Rechts begannen die ersten Bäume.
Dort war mein Ziel: der kleine See.
Ich ging zügig weiter.
Es wurde immer dunkler.
In Gedanken dankte ich meiner Frau,
dass sie mich hatte gehen lassen.
Ich musste einfach dorthin.
An diesem Ort konnte ich zur Ruhe kommen.
An einer Kreuzung ging ich geradeaus.
Ich kam an einem alten Haus vorbei
und nach etwa fünf Minuten erreichte ich den See.
Er lag mitten im Wald,
so groß wie zwei Fußballfelder.
Ein starker Wind kam auf.
Die Bäume rauschten laut.
Trotzdem fühlte ich mich dort ruhig.
Auf dem Wasser schwammen Vögel.
Sie suchten dort Schutz.
Der Weg endete direkt am Ufer.
Ich setzte mich auf einen großen Stein
und dachte an die letzten Wochen.
⸻
Die Diagnose
Vor einem Monat war ich im Krankenhaus gewesen,
weil ich Schwierigkeiten beim Schlucken hatte.
Es gab viele Untersuchungen.
Das machte mir Angst.
Dann kam der Chefarzt zu mir
und sagte mir die Diagnose:
Speiseröhrenkrebs.
Ein Donner ließ mich aufschauen.
Dunkle Wolken kamen von Osten her.
Der Wind wurde stärker.
Die Bäume bogen sich.
Ich wollte noch nicht zurückgehen.
Ich dachte an meine erste Chemotherapie
und an die Worte der Ärztin:
„Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Zum Glück war der Krebs noch im Anfangsstadium
und hatte sich nicht ausgebreitet.
Aber trotzdem stellte ich mir die Frage:
Wie viel Zeit bleibt mir wirklich?
Meine Frau hatte viel recherchiert
und mir erzählt,
dass manche Menschen die Therapie nicht überlebten.
Morgen sollte ich meine dritte Chemo bekommen.
Drei weitere würden folgen.
Dann die Operation.
Danach noch sechs Chemos –
für alle Zellen, die noch übrig waren.
⸻
Der Sturm bricht los
Ein erneuter Donnerschlag riss mich aus meinen Gedanken.
Die Wolken waren jetzt über dem Wald.
„Verdammt!“, fluchte ich und stand auf.
Es fing an zu regnen.
Erst nur leicht –
dann immer stärker.
Ich begann zu laufen.
Meine Kleidung wurde schnell nass.
Also lief ich schneller –
auch wenn ich wusste,
dass ich das nicht lange durchhalten würde.
Der Sturm wurde heftiger.
Ein Blitz zuckte ganz in der Nähe.
Ich blieb stehen.
Der Blitz war so nah,
dass ich kurz erstarrte.
Aber statt Angst fühlte ich Wut.
Ich schrie in den Himmel:
„Willst du mich jetzt schon töten?
Reicht dir der Krebs nicht?“
Ein weiterer Blitz antwortete mir.
Ich lief weiter – schneller als zuvor.
Der Regen und Wind peitschten mir ins Gesicht.
Ich kam wieder am Tierheim vorbei,
überquerte die Straße,
lief an den Gärten entlang.
Ich war klitschnass.
Immer wieder sah ich in den Himmel –
bereit, vom nächsten Blitz getroffen zu werden.
„Wenn es so sein soll … dann eben jetzt“,
dachte ich.
Aber einfach stehen bleiben kam nicht in Frage.
Ich lief weiter.
Meine Lungen brannten.
Ich bekam kaum noch Luft.
Ich musste anhalten.
Langsam wurde mein Atem ruhiger.
Ich ging weiter –
Schritt für Schritt.
Plötzlich kam ein neuer Gedanke:
Ich will leben.
Ich will nicht sterben!
Mit aller Kraft,
die ich noch hatte,
lief ich weiter –
schneller als zuvor.
⸻
Heimkehr und Hoffnung
Ich kam am Bauernhof vorbei.
Dann an das Ende des Weges.
Ich war fast zu Hause.
Blitze leuchteten weiter.
Sie sahen aus wie glühende Schlangen am Himmel.
„Werd ich jetzt vor der Haustür getroffen?“, dachte ich.
„Das wäre nicht fair!“
Aber das Leben ist nicht immer fair.
Ich wischte die Gedanken beiseite
und lief weiter –
bis ich unsere Wohnung erreicht hatte.
Ich war in Sicherheit.
Aber ein neuer Sturm wartete schon:
meine Frau.
„Musste dieser Spaziergang wirklich sein?“,
fragte sie wütend.
„Ja“, antwortete ich nur.
Dann zog ich meine nassen Sachen aus
und ging duschen.
Das warme Wasser tat gut.
Ich lächelte.
Ja, es war gefährlich.
Ja, es war anstrengend.
Aber ich habe es geschafft.
Ich bin nicht gestorben.
Nicht heute.
Vielleicht hat Gott noch etwas mit mir vor.
Vielleicht ist der Sturm –
wie die Krankheit –
nicht das Ende.
Sondern ein Anfang.