Das Menschenkind

von Lora Mare

Das Menschenkind ist anders, aber doch so gleich wie andere.


Es fühlt, es lacht, es weint – ganz wie alle anderen. Es lebt.


Tief in sich selbst ruht es, merkt, wie es von Tag zu Tag anders wird und passt sich an – es gehört dazu, oder?


„Habe ich Platz? Habe ich Raum, um zu sein? Wer bin ich? Darf ich sein, darf ich ICH sein? Werde ich geliebt, werde ich geschätzt? Werde ich anerkannt, wie ich bin, oder ist es nur mein Schatten, der akzeptiert wird?“


Das Menschenkind passt sich an.


„Das tut jeder mit der Zeit, oder?“


Andere spüren die Zweifel, erkennen instinktiv den Schatten. Sie sind nicht einverstanden mit der Anpassung des Menschenkindes.


Sie sind grausam und zerpflücken den Schatten mit ihren eigenen Schattengestalten. Sie zehren von ihrer Zerstörungswut, ihrer Macht über Existenz und Inexistenz.


Ihre Schatten zerschlagen die Anpassung, den Identifikationsprozess des Menschenkindsschattens, verzehren es, alles, was es sich aufgebaut hat, was es glaubte zu sein.


Das Menschenkind ist zerpflückt, verzehrt, existent in seiner Inexistenz.


Es fragt sich: „Wieso? Ich hatte mich angepasst?“


Die Angst vor den Schattengestalten, die sein kleines Kolibriherz in ihren kalten, dunklen Klauen langsam erdrücken, kalte Schauer vom Herzen aussenden, tödliche Elektrizität durch den gesamten Körper fahren lassen.


Die mächtigen, eiskalten, heißen Nadeln jedes Wortes treffen den Menschenkindsschatten.


Sie lassen es immer weiter in sich zusammenfallen. Das Menschenkind ist verunsichert, verstört, zerstört und zersplittert.


Hilflosigkeit macht sich breit.


Die anderen, zu denen das Menschenkind gehören wollte, haben sich abgewandt, waren ihm nie zugewandt, haben es ertragen, geduldet unter sich, aber nicht als ihresgleichen.


So stellt das Menschenkind fest:


Es ist allein, allein im dunklen Wald mit den allesverschlingenden Schattengestalten und ihren kalten, dunklen Klauen.


Das Menschenkind ist in seinem Überlebensmodus angekommen. Der Menschenkindsschatten der Anpassung zerbröckelt, wird/ist pulverisiert in feinen Staub. Es hat nur noch sich selbst in dem Sandsturm des eigenen Identitätsstaubs und versucht, diesen wieder zu einer Steinhaut zu pressen mit allem Druck, den es im Innen und Außen finden kann.


Doch die Kraft des Sandsturms und der Überlebensmodus verschlingen alle Ressourcen. Der feine Staub zermürbt, schleift jede Wunde auf und vergrößert das Leid stetig.


Das Menschenkind wird langsam weniger und wünscht sich, zu verschwinden und sich in dem Sturm einfach aufzulösen, den Kampf aufzugeben und die Schatten über sich herfallen zu lassen.


Ihrem Drang nach Macht in die Inexistenz nachzugeben.


Der Schmerz und die Angst werden so allgegenwärtig, dass sie des Menschenkinds stetige und einzige Begleiter sind. Sie zwingen sich immer wieder elektrisch um das langsamer werdende Kolibriherzchen, um das Menschenkind an seine Existenz zu erinnern.


Der Überlebenswille ist stärker als alle Sandstürme und Schatten um das Menschenkind herum.


Es ist ein winziges Glimmen, dieser Überlebenswille, so winzig, dass man ihn in/im Schatten und Staub kaum vermuten würde.


Dieses Glimmen ist die reine Essenz des Menschenkindes.


Es läuft Gefahr zu erlöschen, aber die elektrischen Impulse von Angst und Schmerz verhindern das leise Ende.


Das Menschenkind ist getrieben von diesen Empfindungen. Es ist sich durch diese bewusst, dass es irgendwie fühlt, atmet, existiert – lebt!


Das Glimmen ist so hell, so unbekannt und dadurch so unberechenbar, dass das Menschenkind es lange als weitere Bedrohung identifiziert und damit unbeachtet lässt.


Erst als das Glimmen fasst erloschen ist, als ein erneuter elektrischer Schlag der Panik das Kolibriherz in gewohnte Hektik versetzt, wird das Menschenkind auf das Glimmen wirklich aufmerksam.


Vorsichtig beginnt es sich ihm zu nähern, es zu betrachten. Es wirkt so unbekannt und bedrohlich.


Eines Tages öffnet das Menschenkind seine Augen, um den gewohnten Stürmen und Leiden entgegenzusehen
und es sieht ein anderes Menschenkind ein anderes Menschenkind in seinem eigenen Sandsturm.


Die Verwirrung ist groß: „Gibt es noch andere, die so sind wie ich?“


Das andere Menschenkind blickt nicht minder verwundert. Undals sich die Blicke treffen, ist ohne jedes Wort klar:


„Ich weiß, was du fühlst.“

Einfache Sprache

Das Menschenkind ist anders,
aber trotzdem so wie andere.
Es fühlt, es lacht, es weint –
so wie alle.
Es lebt.

 

Tief in sich spürt es,
dass es sich von Tag zu Tag verändert.
Es passt sich an.
Es will dazugehören.
Oder?

 

„Habe ich Platz?
Darf ich hier sein?
Darf ich ich selbst sein?
Werde ich geliebt?
Werde ich geschätzt?
Mag man mich, so wie ich bin –
oder nur das, was ich zeige?“

 

Das Menschenkind passt sich an.
„Das macht doch jeder mit der Zeit, oder?“

 

Andere merken die Zweifel.
Sie sehen den Schatten.
Sie wollen nicht, dass das Menschenkind sich anpasst.
Sie sind hart und gemein.
Sie reißen den Schatten in Stücke
mit ihren eigenen dunklen Gestalten.
Sie leben von ihrer Wut,
von ihrer Macht über andere.

 

Sie zerstören,
was das Menschenkind sich aufgebaut hat.
Den Teil, den es von sich zeigen wollte.

 

Das Menschenkind ist verwirrt,
verbraucht,
irgendwie noch da –
aber fühlt sich nicht mehr echt.

 

Es fragt sich:
„Warum? Ich habe mich doch angepasst!“

 

Die Angst vor den Schatten wird groß.
Sie greifen nach dem kleinen, schnellen Kolibri-Herz.
Ihre Krallen sind kalt und dunkel.
Der Schreck geht durchs Herz,
Strom durch den ganzen Körper.

 

Jedes ihrer Worte ist wie eine Nadel.
Sie treffen den Schatten des Menschenkindes
und bringen ihn zum Einsturz.

 

Das Menschenkind ist voller Angst.
Verwirrt.
Zerbrochen.
Zersplittert.

 

Es fühlt sich hilflos.
Die anderen, zu denen es gehören wollte,
haben sich abgewendet.
Vielleicht haben sie es nie wirklich gesehen.
Vielleicht haben sie es nur ertragen –
aber nie als ihresgleichen angenommen.

 

So merkt das Menschenkind:
Es ist allein.
Allein im dunklen Wald,
mit den Schattenwesen
und ihren kalten, harten Krallen.

 

Der Kampf ums Überleben

 

Das Menschenkind ist jetzt im Überlebensmodus.
Der Schatten, den es sich aufgebaut hatte,
bröckelt.
Zerfällt zu Staub.

 

Nur dieser Staub bleibt ihm.
Es versucht, aus dem Staub
wieder etwas Starkes zu formen.
Eine Haut aus Stein.
Es drückt mit aller Kraft,
von innen und außen.

 

Aber der Sandsturm ist zu stark.
Er nimmt alle Kraft.
Der feine Staub verletzt,
reibt die Wunden wund
und macht den Schmerz schlimmer.

 

Das Menschenkind wird schwächer.
Es wünscht sich, zu verschwinden.
Im Sturm einfach aufzulösen.
Aufzuhören zu kämpfen.
Sich den Schatten zu ergeben.

 

Der Schmerz und die Angst
sind immer da.
Sie sind seine ständigen Begleiter.
Sie legen sich um das Herz
und schicken elektrische Blitze
durch den ganzen Körper.
Sie sagen dem Menschenkind:
Du lebst noch.

 

Das Glimmen

 

Trotz allem gibt es etwas in ihm:
ein kleines Glimmen.
Ganz klein.
Fast unsichtbar.
Tief in Staub und Schatten verborgen.

 

Dieses Glimmen ist das wahre Wesen
des Menschenkindes.

 

Es ist fast erloschen.
Aber die Angst und der Schmerz
halten es am Leben.

 

Das Menschenkind merkt:
Durch diese Gefühle
weiß es überhaupt,
dass es noch da ist.
Dass es lebt.

 

Das Glimmen ist hell,
fremd
und deshalb wirkt es gefährlich.
Lange beachtet das Menschenkind es nicht.
Erst als es fast ganz weg ist –
da schaut es genau hin.

 

Begegnung

 

Es sieht das Glimmen.
Vorsichtig nähert es sich.
Es fühlt sich fremd an,
aber nicht mehr nur bedrohlich.

 

Und dann, an einem schweren Tag,
macht das Menschenkind die Augen auf
und sieht:
ein anderes Menschenkind
mitten im eigenen Sandsturm.

 

Die Verwirrung ist groß.
„Gibt es noch andere wie mich?“

 

Das andere Menschenkind
staunt genauso.

 

Ihre Blicke treffen sich.
Sie sagen nichts.
Aber es ist sofort klar:

 

„Ich weiß, wie du dich fühlst.“