Das Kopfhaus

von Win Anders Jensen

In meinen Kopf, da ist ein Haus.
Wie hoch es ist? Das kann ich dir nicht sagen, ich sah sein Ende bisher nicht.
Wie viele Zimmer es hat? Vermutlich unendlich viele, das hoffe ich jedenfalls.
Ob es einen Garten hat? Ja, doch, doch. Dort vergrabe ich oft meine Wut, meine Überforderung, meine Ängste.
Wozu ich dieses Haus im Kopf brauche, wenn es außerhalb meines Körpers genug Häuser gibt, fragst du.

 

Um zu überleben.

 

Um zu überleben, sobald ich die Wohnung verlasse, die Außenwelt betrete, auf Menschen, Dinge und Systeme treffe.
Ich scheine nach draußen zu gehen, aber in Wirklichkeit – für alle anderen unsichtbar – wechsle ich nur das Haus, betrete das Kopfhaus.
Ich laufe durch seine riesige Eingangshalle. Ich biege nach rechts ab in das erste Zimmer, zu meinem Schreibtisch, dem Blick aus dem Fenster in den Garten, den Pinseln, Farben, Papieren.
Ich setze mich und beginne zu malen.

 

Die Ruhe behalten, die Ruhe behalten, murmle ich.

 

Im Außen siehst du mich in den Bus steigen.
Und sofort höre ich, wie es in der Eingangshalle meines Kopfhauses zu rumoren beginnt.
Stimmen, Gerüche, Geräusche, Blicke, Gesten, Bäume, Häuser, Autos, sie alle fluten aus dem Außen in die Eingangshalle meines Innern.
Nichts hält sie auf, denn das Kopfhaus hat keine Tür.
Natürlich habe ich schon oft versucht, eine einzubauen, aber keine hat lange Stand gehalten. Zudem haben andere versucht, mir beim Einbau zu helfen.

 

Ohne Erfolg.

 

Seufzend erhebe ich mich und gehe zur Eingangshalle zurück. Ich habe erlebt, was passiert, wenn ich es nicht tue: Dann werden sie unkontrollierbar alle anderen Zimmer überschwemmen. Sie werden Chaos verbreiten, meine mühsam errichteten Bibliotheken zerstören und schließlich auch vor dem ersten Zimmer rechts im Erdgeschoss nicht zurückschrecken. Sie werden in meinen absoluten Rück-zugsraum eindringen und dann …
Damit das nicht passiert und sie Ruhe geben, muss ich sie sortieren, ihnen Zimmer zuweisen. Die Parfüme bitte hier lang, Blicke und Gesten dorthin, halt, für graue Jacken ist dieses Zimmer vorgese-hen, nein, Mützen gehören dort nicht hin …
Warum ich sie nicht einfach hinausschmeiße?

 

Zu anstrengend, viel zu anstrengend. Ich bin müde, unendlich müde. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, ob ich jemals nicht müde war.

 

Du siehst mich aus dem Bus steigen und in das Gericht gehen, in dem ich arbeite; siehst mich in meinem Büro verschwinden, den PC hochfahren und einen letzten Blick in die vorbereiten Akten werfen; siehst mich meine Robe anziehen und meine Krawatte richten. Einen Moment lang genieße ich die Stille in der kurzzeitig geräumten Eingangshalle des Kopfhauses.
9.00 Uhr, ich muss los in den Saal, wieder ins Außen, nur dieses Mal in den direkten Austausch mit Menschen. Ich bin auch ein Mensch, ich weiß, aber ich fühle mich nicht so, weil ich die anderen nicht verstehe. Nein, sie sprechen keine andere Lautsprache als ich, das ist es nicht.
Was ist dann das Problem?

 

Lass mich es dir zeigen!

 

Der Richter kommt. Geflüsterte Worte, während ich den Saal betrete und die Menschen begrüße, also/sprich Kläger, Beklagte und Anwälte. Alle setzen sich und wir beginnen. Du siehst uns verhan-deln, hörst mich Fragen stellen. Ich mache Notizen, ruhig, gelassen.
Aber das ist bloß das Außen. Horch! Hörst du nicht den tosenden Lärm in der Eingangshalle des Kopfhauses? Siehst du nicht, wie ich renne, renne, renne treppauf, treppab? Ich versuche, den Strom der Eindrücke zu bewältigen. Anders als im Bus muss ich dieses Mal blitzschnell in meine Bibliothe-ken eilen. Mit fliegenden Fingern suche ich in meinen Büchern und Skripten nach der passenden Re-aktion auf das, was die Menschen im Außen sagen, und muss dies zusätzlich in Lautsprache überset-zen. Ja, ich kann Lautsprache sprechen, aber wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber Bilder sprechen lassen.
Nur zurück, zurück in das erste Zimmer rechts, wo ist es, ich finde es nicht mehr, zu viel, zu VIEL!

 

Ich schreie vor Verzweiflung und Anstrengung, doch niemand höre es, niemand sieht es seit mehr als 20 Jahren.
Bis ich eines Tages da draußen in der Außenwelt einen Menschen treffe, der all das kennt, all das auch erlebt hat – anders zwar, aber er versteht mich. Gerade noch rechtzeitig, kurz bevor ich aufgegeben hätte, mein Kopfhaus hätte zusammenstürzen lassen und mich darunter begraben.

 

Das Kopfhaus ist immer noch da.

 

Es wird nach wie vor täglich geflutet, aber abends treffen wir uns jetzt und helfen uns beim Sortieren, beim Anlegen neuer Bibliotheken. Wir erklären uns gegenseitig das Außen.
Und dann malen wir zu zweit, doch jeder für sich alleine, an unserem großen Maltisch mit Kopfhö-rern, die die Last des Außens etwas weiter in die Ferne rücken lassen – wenn auch nur für diesen Abend. Immerhin!

 

Wir überleben, zusammen.

Einfache Sprache

In meinem Kopf gibt es ein Haus.
Wie hoch es ist? Das weiß ich nicht. Ich habe das Ende noch nie gesehen.
Wie viele Zimmer es hat? Bestimmt unendlich viele – das hoffe ich.
Hat es einen Garten? Ja. Dort vergrabe ich oft meine Wut, meine Angst und meine Überforderung.

 

Du fragst, warum ich dieses Haus in meinem Kopf brauche,
wo es doch draußen genug echte Häuser gibt?

 

Weil ich überleben muss.

 

Wenn ich meine Wohnung verlasse und raus in die Welt gehe,
wenn ich Menschen, Dinge oder Regeln begegne,
dann scheint es so, als würde ich einfach das Haus verlassen.
Aber in Wahrheit betrete ich mein Kopfhaus.

 

Ich gehe in die große Eingangshalle.
Dann biege ich nach rechts ab, in mein erstes Zimmer.
Dort steht mein Schreibtisch.
Ich schaue in den Garten und beginne zu malen.

 

„Ganz ruhig bleiben“, flüstere ich mir zu.

 

Draußen sehen die Leute mich in den Bus steigen.
Aber in meinem Kopf beginnt es zu toben.
Gerüche, Geräusche, Stimmen, Blicke, Autos, Häuser, Bäume –
alles aus der Außenwelt strömt in mein Kopfhaus hinein.

 

Ich kann sie nicht aufhalten.
Denn das Kopfhaus hat keine Tür.
Ich habe schon oft versucht, eine Tür zu bauen,
andere haben mir dabei geholfen – aber es hat nie geklappt.

 

Also gehe ich wieder zurück in die Eingangshalle.
Wenn ich das nicht mache, breiten sich die Eindrücke aus
und zerstören alles – sogar meinen Rückzugsort.

 

Ich muss Ordnung schaffen.
Die Parfüm-Gerüche hier entlang, die Blicke dorthin.
Graue Jacken kommen in dieses Zimmer, Mützen bitte woanders hin.

 

Warum ich sie nicht einfach rauswerfe?
Das ist zu anstrengend.
Ich bin müde. Sehr müde.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mal nicht müde war.

 

Mein Alltag mit dem Kopfhaus

 

Du siehst mich aus dem Bus steigen und in ein Gerichtsgebäude gehen.
Ich arbeite dort. Ich schalte den Computer ein, sehe mir meine Akten an,
ziehe meine Robe und meine Krawatte an.
Für einen kurzen Moment ist es still in meinem Kopfhaus.
Es ist 9 Uhr. Ich gehe in den Gerichtssaal.

 

Jetzt muss ich wieder mit Menschen sprechen.
Ich weiß, ich bin auch ein Mensch,
aber ich fühle mich oft nicht so –
weil ich die anderen nicht verstehe.

 

Sie sprechen dieselbe Sprache wie ich.
Aber trotzdem: Ich verstehe sie oft nicht.

 

Warum nicht?

 

Ich zeige es dir:

 

Der Richter kommt. Ich begrüße alle – Kläger, Beklagte, Anwälte.
Alle setzen sich. Wir beginnen.
Du siehst, wie ruhig ich wirke. Ich stelle Fragen, mache Notizen.
Aber das ist nur mein äußeres Bild.

 

Drinnen in meinem Kopfhaus herrscht Chaos.

 

Ich renne in Gedanken durch die Flure,
suche in meinen Büchern nach der richtigen Reaktion,
übersetze innerlich in gesprochene Sprache.
Ich kann sprechen, ja.
Aber lieber würde ich in Bildern sprechen.

 

Ich versuche, zurück in mein erstes Zimmer zu finden.
Aber alles ist zu viel. Ich schreie innerlich.
Niemand hört es. Seit über 20 Jahren nicht.

 

Ein Mensch, der mich versteht

 

Dann, eines Tages, treffe ich draußen jemanden.
Dieser Mensch kennt das auch –
nicht genau so, aber ähnlich.
Er versteht mich.

 

Gerade noch rechtzeitig.
Bevor ich aufgegeben hätte.
Bevor mein Kopfhaus zusammengebrochen wäre.

 

Jetzt ist das Kopfhaus noch da.
Es wird immer noch von der Welt überflutet.
Aber am Abend treffen wir uns.

 

Wir helfen einander,
räumen gemeinsam auf,
erklären uns gegenseitig die Welt.

 

Dann malen wir – nebeneinander, jeder für sich.
Mit Kopfhörern, die den Lärm von draußen leiser machen.
Nur für diesen Abend.
Aber das reicht.

 

Wir überleben – zusammen.